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TV-Kritik/Review: ARD-Miniserie über Vergewaltigungsvorwurf zeigt, wie "37 Sekunden" Leben zerstören können
(03.08.2023)
Wie lange der Sex denn gedauert habe, fragt die Richterin die als Zeugin geladene Nebenklägerin, nachdem die geschildert hat, wie sie von ihrem Ex-Geliebten am Rande einer Party vergewaltigt wurde. So ganz genau kann sie das natürlich nicht sagen. 37 Sekunden vielleicht, es könnten auch 66 gewesen sein. Nur einen Moment jedenfalls, wie er jeden Tag Hunderte Male vergeht, ohne im Gedächtnis zu bleiben. Aber dieser eine Moment hat die Leben von gleich mehreren Menschen zerstört.
In seinem etwas abgelegenen Gartenstudio kommt es erst zum Streit, dann zur körperlichen Annäherung. Der betrunkene Carsten will Sex, Leonie sagt, dass sie jetzt und so nicht will. Daraufhin wendet er sich zum Gehen, aber sie zieht ihn zu sich zurück. Daraufhin dreht er sie an die Wand und will in sie eindringen. Sie sagt noch einmal leise nein, lässt es dann aber still über sich ergehen. Am nächsten Morgen ist sich Carsten keiner Schuld bewusst und Leonie kann das Geschehene für sich noch nicht recht einordnen, weiß nur, dass sie sich schlecht fühlt. Als sie ihrer Freundin Clara, die als Anwältin arbeitet, andeutungsweise davon erzählt, ohne einen Namen zu nennen, rät die ihr, ihren Geliebten anzuzeigen. Aber Leonie will dem Mann, den sie doch liebt, nicht schaden - und es sei doch eigentlich auch gar nichts passiert.
Doch dieser Übergriff wird sie in den nächsten Tagen und Wochen nicht loslassen, ihr den Schlaf rauben und sexuelle Beziehungen mit anderen Männern unmöglich machen. Während sie erst über Social Media, dann doch bei einer Anwältin und der Polizei Hilfe sucht, wechselt Clara die Seiten, nachdem sie erfahren hat, dass es sich bei dem potentiellen Täter um ihren Vater handelt. Sie lässt ihre Freundin fallen und tut alles juristisch Mögliche, um ihre Familie zu retten. Dabei verliert sie nach und nach alle moralischen Skrupel.
Gezwungen, sich irgendwie zu dem Vorwurf zu verhalten, sind auch die anderen Familienmitglieder. Während Carstens zweite Ehefrau Maren (Marie-Lou Sellem aus Tom Tykwers grandiosem Frühwerk
Man kann beim Gezeigten natürlich gar nicht anders, als an aktuelle Fälle denken wie an Kevin Spacey, der gerade erst von den Vorwürfen sexueller Übergriffe mehrerer junger Männer freigesprochen wurde. Oder an den des Rammstein-Sängers Till Lindemann (und anderer Bandmitglieder), wo immer neue Vorwürfe an die Öffentlichkeit dringen. Im Gegensatz zu Lindemanns Image scheint dieser Carsten Andersen, vom Typ her und musikalisch eine etwas merkwürdige Mischung aus Mick Jagger und Peter Maffay, ein ganz netter Kerl zu sein, ein sensibler Künstler, der niemandem schaden möchte.
Aber eben auch ein Egomane, der mittels einer Affäre zu einer jüngeren (und machtloseren!) Frau - die im Gegensatz zu seinem Luxusleben in einer WG in einem Hochhaus wohnt und an der Tankstelle jobben muss - seine Schaffenskrise überwinden wollte und angeblich wilden Sex braucht, um kreativ zu sein. Es sind diese Grauzonen, die die Serie sehr gut abzubilden versteht. Obwohl der Akt selbst für die Zusehenden relativ klar als Vergewaltigung zu erkennen ist, wirkt auch Carstens Sichtweise durchaus nachvollziehbar, hat Leonie doch zwar "Nein" gesagt, aber eben auch durchaus zweideutige Signale gegeben.
Über fünf Folgen baut die Serie dieses komplizierte Beziehungsgeflecht und die ambivalenten Beurteilungen des Geschehens auf und profitiert dabei von einem durchgehend tollen Ensemble, wobei vor allem Paula Kober als zwischen Naivität, Unsicherheit und Selbstbestimmung changierende junge Frau beeindruckt. Mit der letzten Folge schaffen es die AutorInnen dann aber leider, ihre ganze Konstruktion durch ebenso unglaubwürdige wie ärgerliche Wendungen wieder einzureißen. Dass das Opfer einer Vergewaltigung dann doch noch mal mit dem Täter schlafen will, ist jedenfalls nicht nur schwachsinnig, sondern auch so misogyn, dass man kurz denkt, jetzt doch in einem Lars-von-Trier-Film gelandet zu sein. So schießt sich die Erzählung kurz vor Schluss noch selbst ins Bein und verhindert eine bessere Gesamtbewertung. Sehenswert ist die Miniserie trotzdem, schon um sich selbst eine Meinung zu diesem ebenso wichtigen wie leider wohl zeitlosen Thema zu bilden.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Miniserie "37 Sekunden".
Die komplette sechsteilige Miniserie wird am 4. August vorab in der ARD Mediathek veröffentlicht. Die lineare Ausstrahlung folgt am 15. und 22. August mit jeweils drei Episoden ab 22.50 Uhr im Ersten.
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